Angela Merkel „kann Kanzlerin“ und kann Krise – salopp gesprochen. Dem Urteil werden viele am Ende ihrer erstaunlichen politischen Karriere zustimmen. Auch bei ihrem Abitur - dem gilt hier das Interesse - hatte sie eine Krise zu meistern und fast wäre sie an einem provokativ vorgetragen „Mops“-Gedicht gescheitert. Daran zu erinnern passt thematisch zum Abschied aus dem höchsten Amt und damit setzen wir die lockere Reihe bemerkenswerter Abitur-Fälle fort. Abi-Plakaten spielen übrigens Blog gerecht auch noch eine Rolle, aber nicht in dieser „Gedicht-Affäre“ an der Erweiterten Oberschule Hermann Matern der damaligen DDR - in der Uckermark, in Templin, im Frühjahr 1973.
Reifeprüfung
Einige Hinweise vorab: Gymnasien hatte die DDR abgeschafft,
auch das „Abitur“, selbst wenn der
Begriff im Alltag noch gebraucht wurde. Über die zweijährige Oberschule (11./12.
Klasse) konnten etwa 10 Prozent eines Jahrgangs die „allgemeine Hochschulreife“
erwerben (in der BRD damals etwa 11 Prozent). Erstklassige Durchschnitts-Note
(1,7) war eine Voraussetzung für den Wechsel an die Oberschule, zumeist auch
Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend, die Zugehörigkeit zur
arbeitenden Klasse ferner ein Vorteil, Pfarrerstochter zu sein dagegen ein
Nachteil, den Angela Kasner
(Geburtsname), wie die Eltern ihr einschärften, nur durch besonders gute Noten
ausgleichen könne. Russisch war die Hauptfremdsprache – Naturwissenschaften
stark vertreten. Schon vor der Abschluss-Prüfung hatte sie, oft die
Klassenbeste, die Zusage für ein
Physikstudium in Leipzig. Im Zentralabitur war in der Fremdsprache das
Schreiben einer Briefreundin auf Russisch zu beantworten – etwa Fragen nach
DDR-Verhältnissen zu erklären, zur eigenen Stadt oder sonstigen
Lebensverhältnissen. In der mündlichen Prüfung waren dann ähnliche Aspekte noch
im Dialog mit der Lehrerin darzulegen.
Das meisterte Angela Merkel, die schon bei dem
Sprachwettbewerb „Russisch Olympiade“, von der Lehrerin Erika Benn vorbehaltlos gefordert und gefördert, im nationalen Finale schon einen Preis
gewonnen hat, „mühelos“. Sie war auch im „Abitur“ eine sehr gute Schülerin. „Das
Mühelose hat mich auch sehr geprägt,“ gab sie selbst zu Protokoll. „Die Schule
machte mir überhaupt keine Schwierigkeiten. Mathe nicht. Russisch nicht.
Deutsch nicht.“ (zitiert nach Ralph Bollmann: Angela Merkel, 2021; S. 44)
Kulturstunde mit "Mopsleben" - und Folgen
An der Interpretation eines Gedichts kann also die Tochter einer Englisch-Lehrerin und
eines eloquenten Theologen kaum gescheitert sein. Der Vater hegte im Übrigen Ehrgeiz für seine Kinder. (Den auf einem Abi-Plakat zu bekunden
wäre da eine vollkommen widersinnige
Vorstellung. Jedenfalls peppten die Schüler/innen der 12 B vor ihrem Abschluss an der Oberschule eine fällige „Kulturstunde“ in Westkleidung
und mit unangepassten, provokativen Einlagen auf: die „Internationale“ auf
Englisch und dazu ein beziehungsreiches Gedicht über das „Mopsleben“ von
Christian Morgenstern:
„Es sitzen Möpse gern auf
Mauerecken//die sich ins Straßenbild hinaus erstrecken,
um von sotanen vorteilhaften Posten//die
bunte Welt gemächlich auszukosten.
O Mensch, lieg vor dir selber auf
der Lauer//sonst bist du auch ein Mops nur auf der Mauer.“
Als subversive Kritik an Mauer-Grenze, auch an Partei und Staat deuteten staatstreue, vermopste Lehrer und der Kreisschulrat insbesondere die letzten Zeilen. Morgenstern galt der DDR-Literaturwisseschaft ohnehin als ideologisch verdächtig. (Gerd Matz in exzellentem Beitrag der Lyrikzeitung.) Die Schüler mussten, schreibt Bollmann, in seiner fulminanten Biographie über Merkel, „um Abitur und Studienplatz fürchten“. Eltern, die aus Protest das folgende „Scherbengericht“ in der Schule aus Protest verließen, konnten eine Strafaktion mithilfe intervenierender höherer Kirchen-Verantwortlicher, darunter Manfred Stolpe, abwenden.
Wir schaffen das
Der Kultur-Skandal des Abi-Jahrgangs zeigt nach Ansicht von Biograph Bollmann eine Angela Merkel, die zwischen Eigensinn und Anpassung nüchtern abwäge und zwei Lektionen gelernt habe: sich in bestimmten Konstellationen vorsichtig zu verhalten und in Krisen die Nerven zu bewahren. Damit zieht der Autor eine lange Linie von der Krisenkanzlerin der Gegenwart zum „Mopsleben“ damals, die allerdings etwas dünn bleibt, weil die Rolle von „Kasi“ (Spitzname in der Schule) in dem Skandal zu knapp geschildert wird.
Mit ihrer Reiselust und Neugier auf die Welt, notgedrungen der östlichen
Hemisphäre folgte die Schülerin mit Rucksack und Zelt ähnlichen Zielen wie die
westdeutsche Schülern; hinaus in die Welt ist auch immer wieder ein Wunsch-Motiv
auf Abi-Plakaten. Auf diese Plakate schafft es dann später mühelos
ein Merkel-Satz. „Wir schaffen das.“ Aus der Ermutigung zur Hilfsbereitschaft in
der Flüchtlingskrise wurde ein Abi-Motto.
Und zum Finale: noch ein Gedicht?
Inwieweit Angela Merkel Gedichte mag oder mochte, bleibt ungeklärt. Kontakte zu Reiner Kunze sind bekannt, ebenso die private Freundschaft zu der Schrifstellerin Ulla Hahn und ihrem Lebensgefährte Klaus von Dohnanyi. Und verbürgt ist, dass die als wohltuend nüchtern beschriebene Naturwissenschaftlerin ihre Antrittsrede als CDU-Generalsekretärin, ein wichtiger Schritt in Richtung höchste politischer Ämter, mit einem Satz von Hermann Hesse schmückte: "Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…"Ob und welche Lyrik dann doch in ihren Reden aufleuchtete, werden literatur- oder politikwissenschaftliche Oberseminar-Arbeiten empirisch genau erfassen.
Aus dem Blickwinkel an dieser Stelle könnte die scheidende Kanzlerin doch mit einer Gedichtzeile bei der Amtsübergabe im Kanzleramt einen großen Bogen schlagen. Hesse geht natürlich: „Wohl an denn Herz, nimm Abschied und gesunde.“ Obwohl das leicht zu missdeuten wäre, ein Zitat von Morgenstern könnte sie auch ohne negative Folgen erwägen. Ihrer Eigenständigkeit und dem Streben immer sie selbst zu sein (Rede auf dem Kirchentag) entspräche indes mehr ein russischer oder eine zeitgenössische amerikanische Schriftsteller/in, erst Recht wenn Offenheit gegenüber der Welt in den Versen zum Ausdruck kommen soll.
Wir sind gespannt.
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