Die Wöhlerschule gilt als Vorreiter dieses Brauchs

Wenn Stefan Jakob und Martin Berthoud von dem Thema erzählen, über das sie als Stadtteilhistoriker der Stiftung Polytechnische Gesellschaft geforscht haben, dann landen sie schnell bei einer Frühlingsnacht vor gut einem Jahrzehnt. Jakob, der ganz in der Nähe der Wöhlerschule wohnt, kam damals spätabends nach Hause und entdeckte zu seiner Überraschung mehrere dunkle Gestalten, die sich dort herumdrückten. „Suchen Sie etwas?“, fragte er. „Nein, nein“, wehrte der Angesprochene ab, man warte nur darauf, dass es Mitternacht werde: Dann dürfe man nämlich die Abi-Plakate für die angehenden Absolventen aufhängen und könne sich die besten Plätze dafür sichern.


Bemalte Laken und Transparente

Jakob, der aus Nordrhein-Westfalen stammt und vor seiner Rente als Journalist sowie Produzent von Fernsehfilmen tätig war, muss immer noch schmunzeln, wenn er an diese Szene denkt. Zumal er diese Form des Zuspruchs für Abiturienten bis dahin gar nicht gekannt habe, sagt er. Auch dem früheren TV-Programmplaner Martin Berthoud, mit dem er befreundet ist, erzählte er davon. Jahr für Jahr verfolgen beide seitdem gespannt, wie sich die Wöhlerschule im späten Frühjahr in eine Art „Flaggschiff“ verwandelt: „Bemalte Laken, Transparente und Plakate flattern im Wind, der Haupteingang die Brücke, die Zäune die Reling. Doch keiner hat die Schule gekapert, alles dient der Ermutigung der Abitur-Prüflinge.“ So beschreiben sie es auf der Internetseite https://abi-plak.blogspot.com, auf der sie ihre Stadtteilhistoriker-Forschungen zum Thema „Abi-Plakate am Wöhler“ dokumentieren.

Wie diese „kleine Galerie im öffentlichen Raum“ entstanden ist, liegt immer noch weitgehend im Dunkeln. Eine Theorie besage, dass Austauschschüler diesen Brauch aus den USA mitgebracht hätten, erzählt Stefan Jakob. Bei ihren zahlreichen Gesprächen mit ehemaligen Schülern, Eltern, Lehrern und Bewohnern des Stadtteils hätten sie dafür aber keine Belege festgestellt. Wahrscheinlicher sei vielmehr, dass die Ursprünge in der Straßenkunst liegen: in Graffiti, wie sie sich in den 1970er- und 1980er-Jahren ausbreiteten. „Es spricht viel dafür, dass das die Vorläufer waren“, sagt Jakob. Um das Jahr 1990 herum hätten Freunde der Abiturienten vor dem Wöhlergymnasium gute Wünsche auf Straße und Gehsteig gemalt. Damit nimmt die Schule offenbar eine Vorreiterrolle in Frankfurt ein: Sie sei eine der ersten gewesen - vielleicht sogar die erste -, wo man derartige Mutmacher beobachten konnte, sagen die Stadtteilhistoriker.

In den folgenden Jahren schaffte der Zuspruch für die Prüflinge den Sprung vom Asphalt auf Zäune und Wände. Ein Foto aus dem Jahr 1996 belegt jedenfalls einen Schriftzug nahe der Eingangstür, mit dem der Abitur-Jahrgang des Vorjahres seinen Nachfolgern an der Wöhlerschule alles Gute wünschte. Und im Wöhler-Jahrbuch aus dem Jahr 1998 findet sich ein Bild vom Haupteingang, auf dem kleine Graffiti auf den Bodenplatten sowie eine Handvoll Plakate zu erkennen sind. Damals sei die Aktion nur von Schülern getragen gewesen, berichten Berthoud und Jakob.

Schlechtes Gewissen

Das ändert sich jedoch kurz nach der Jahrtausendwende. Immer mehr Familien übernehmen den Brauch und gestalten ein Banner für ihren Nachwuchs, der über den Prüfungsklausuren schwitzt - unter dem Motto: „Du schaffst das!“ Vielleicht, überlegt Stefan Jakob, spiele hier auch der Schock über die schlechten Ergebnisse deutscher Schüler bei der ersten Pisa-Studie eine Rolle; samt der Vorwürfe an die Adresse der Eltern, dass sie sich zu wenig um ihre Kinder kümmerten. Ab 2003 jedenfalls explodiert die Zahl der Plakate förmlich. Nicht nur am Dornbusch, sondern auch an anderen Frankfurter Schulen.Anangs kamen vor allem Tapeten oder alte Bettlaken zum Einsatz, auf die die Mutmach-Botschaften gepinselt wurden. In den vergangenen Jahren sei jedoch eine zunehmende Professionalisierung zu beobachten, sagt Martin Berthoud - auch wegen des technischen Fortschritts. Sogar Agenturen bieten mittlerweile ihre Dienste bei der Gestaltung an.

Eines ist jedoch geblieben: Kern der Plakate sind nach wie vor die guten Wünsche an die Prüflinge. Auch „alltagskulturelle Trends“ seien an ihnen abzulesen, beschreibt Berthoud. Einige Zeit sei beispielsweise der Nike-Slogan „Just do it“ populär gewesen, ebenso Barack Obamas Wahlkampf-Motto „Yes, we can“. Beliebte Motive lieferten auch Zeichentrickfiguren wie die Simpsons oder Kinderbuchautorin Astrid Lindgren - nach dem Motto „Mach dein Ding, sei selbstbewusst und widerständig“. Direkte Auseinandersetzungen mit dem Thema Schule seien hingegen selten. „Die große Abrechnung gibt es höchstens andeutungsweise“, hat er beobachtet. Zurückgegangen sei jedoch die Zahl der Banner, die proklamieren, dass es nach dem Abitur hinaus in die Welt gehe, ergänzt Jakob: „Das spiegelt vielleicht eine gesellschaftliche Entwicklung wider.“

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